Für das Leben auf der Erde spielen die Gletscher eine entscheidende Rolle:
- Sie regulieren den Meeresspiegel.
- Sie sind ein Zwischenspeicher für Niederschläge und sorgen dafür, dass große Gebiete kontinuierlich bewässert werden.
Durch die Erwärmung der Erde schmelzen die Gletscher. Der Meeresspiegel steigt. Küstennahe Gebiete werden überflutet. Flüsse, die von den Gletschern gespeist werden, erhalten zuerst zu viel und dann zu wenig Wasser. Die Landwirtschaft, die von ihnen abhängt, wird schwerer oder unmöglich.
Diese Prozesse haben – als Folgen der Verbrennung von fossilen Brennstoffen und der Intensivlandschaft – schon vor Jahrzehnten begonnen. Sie hängen direkt von den Treibhausgasen in der Atmosphäre ab. Sie sind unumkehrbar, aber sie lassen sich wenigstens teilweise stoppen, wenn keine Treibhausgase mehr in die Atmosphäre gelangen. Wenn sie fortgesetzt werden und sich sogar noch weiter beschleunigen, werden große Gebiete der Erde unbewohnbar.
Bisher ließ sich nur ausgehend von Messungen an einzelnen Gletschern und durch Modelle abschätzen, wie empfindlich die Gletscher auf Temperaturveränderungen reagieren und wie sehr die globale Erhitzung sie schon geschädigt hat. Jetzt ist die erste Bestandsaufnahme zur Entwicklung aller Gletscher der Erde in den vergangenen 20 Jahren veröffentlicht worden. Sie beweist, dass die Annahmen der Klimaforschung zum Abschmelzen der Gletscher im wesentlichen richtig sind. Sie zeigt zum ersten Mal genau, wie sich die Zerstörung der Gletscher in kurzer Zeit beschleunigt hat. Sie erlaubt es für jede Region abzuschätzen, welche Folgen die weitere Aufheizung der Erde durch Treibhausgase für die Gletscher und die von ihnen abhängigen Gesellschaften haben wird. Sie ist ein einziger Alarmruf, die Emissionen von Treibhausgasen sofort zu stoppen. Gletscher reagieren empfindlich auf kleinste Temperatursteigerungen. Steigen die Temperaturen weiter, werden Hunderte von Millionen, wahrscheinlich Milliarden von Menschen ihre Existenzgrundlagen verlieren.
Ein Geschichtsatlas zum Ende der Gletscher
Für die neue Publikation hat ein internationale Forscherteam stereoskopische Satellitenbilder von den etwa 220.000 Gletschern der Erde ausgewertet. Nicht einbezogen wurden nur das grönländische und das antarktische Eisschild. Die Ergebnisse wurden – mit vielen Karten zur Übersicht – in der Zeitschrift Nature publiziert: Accelerated global glacier mass loss in the early twenty-first century. Die wichtigsten Ergebnisse fasst diese Pressaussendung zusammen: Weltweiter Gletscherschwund hat sich beschleunigt. (Gute Artikel zur Studie: Internationale Studie zur Klimakrise: Gletscherschmelze beschleunigt sich, Speed at which world’s glaciers are melting has doubled in 20 years | The Guardian, Melting glaciers drove ‘21% of sea level rise’ over past two decades | Carbon Brief).
Etwa 10% der Landoberfläche der Erde sind von Gletschern und Eisschilden bedeckt; sie speichern etwa 70% des Süßwassers der Erde ( IPCC Special Report on the Ocean and Cryosphere in a Changing Climate, S. 79). Die Gletscher schmelzen inzwischen überall auf der Welt. Besonders erschreckend: Die Geschwindigkeit, mit der sie verloren gehen, hat sich seit 2000 verdoppelt. Damals haben sie durchschnittlich 36cm im Jahr an Dicke eingebüßt, inzwischen sind es fast 70cm jährlich. Je nach Region schmelzen die Gletscher unterschiedlich schnell, am meisten Wasser verlieren sie in Alaska. Zu den am schnellsten schmelzenden Gletschern gehören die in den Alpen.
Das Wasser, das die schmelzenden Gletscher in die Meere abgeben, reicht dazu aus, jährlich die gesamte Fläche Englands zwei Meter hoch zu überfluten. Es ist für 21%, also gut ein Fünftel des Meeres-Spiegel-Anstiegs verantwortlich. (50% gehen auf die thermische Ausdehnung des wärmeren Wassers zurück, die übrigen ca. 30% auf das Schmelzen des antaktischen und gronländischen Festlandseises.) Durch das Wasser aus den Gletschern steigt der Meeresspiegel jährlich um 0,74 Millimeter.
Wenn die globale Erhitzung nicht sehr rasch gestoppt wird, werden vor allem ab der Mitte des Jahrhunderts die Gletscher des Himalaya weitgehend abschmelzen und ihre Funktion für die großen asiatischen Flußsysteme verlieren. Bisher versorgen sie die Flüsse mit ihrem Schmelzwasser und sorgen damit für eine kontinuierliche Wasserzufuhr. Ohne oder mit viel kleineren Gletschern wird das Wasser sofort in das tiefere Land abfließen, darauf werden Dürren folgen. Damit ist die Wasserversorgung für ca. eine Milliarde Menschen gefährdet, die von Flüssen wie Brahmaputra, Yangtse und Mekong abhängen. Ca. 200 Millionen Menschen sind unmittelbar vom Anstieg des Meeresspiegels bedroht.
Die Hälfte der Alpengletscher ist schon verloren
Auch wenn das Pariser Abkommen eingehalten wird, sind viele Gletscher- und Gletscherregionen verloren. Ein Zehntel der Berggletscher der Erde wird bis 2050 mit Sicherheit schmelzen. In besonders betroffenen Gebieten, z.B: in Mitteleuropa, wird die Eismasse der Gletscher um die Hälfte zurückgehen. Setzen sich die Verluste fort, werden 80-90% der alpinen Gletscher 2050 geschmolzen sein. In der Schweiz wird dann möglicherweise kein Gras mehr gedeihen (World will lose 10% of glacier ice even if it hits climate targets | The Guardian).
Das Schmelzen der Gletscher lässt die Erdachse kippen
Das Abschmelzen der Gletscher und der polaren Eisschilde hat die Verteilung der Massen auf der Erde so eingreifend verändert, dass davon wahrscheinlich sogar die Kreiselbewegung der Erdachse betroffen ist. Im Anthropozän wird nicht nur die Oberfläche, sondern sogar die Bewegung des Planeten von menschlichen Aktivitäten beeinflusst (Der Mensch lässt die Erdachse kippen – derStandard.at, wissenschaftliche Publikation: Polar Drift in the 1990s Explained by Terrestrial Water Storage Changes).
Die Gletscher sind von der globalen Erhitzung unmittelbar betroffen, und ihr Abschmelzen wirkt sich direkt auf Meeresspiegel und Wasserversorgung aus. Die neue Studie zeigt ein Gesamtbild, in das viele einzelne Beobachtungen – vom Abschmelzen der Alpengletscher bis zur apokalyptischen Entwicklung am Thwaites-Gletscher in der Antarktis – passen. Wenn die Emissionen nicht in den kommenden Jahren gestoppt werden, lässt sich der Abschmelzprozess der Gletscher und damit eine Katastrophe für einige der am dichtesten besiedelten Gebiete des Planeten nicht mehr aufhalten.